24.10.2020 / Kommentar von Dr. Michael Müller-Wünsch, Gründungsmitglied von The Interface Society (ThIS!) e.V.
#WELTENWANDEL: Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Sport und Journalismus aus der Metropolregion Hamburg treffen sich seit 2019, um sich über die aktuellen, rasanten Veränderungen in unserer Gesellschaft und deren Implikationen für unser Zusammenleben auszutauschen!
Initiiert von Stefanie Stoltzenberg-Spiess und Arno Probst ging es um den persönlichen Beitrag im Zeitalter der dramatischen Veränderungen. Die Würde des Menschen soll hier zum Fixpunkt und das Leitbild, aber auch Maßstab für die Bewertung von Veränderung (wieder) werden. Die Corona Pandemie wirkt aktuell auf viele der gesellschaftlichen Veränderungen wie ein Katalysator. Insbesondere die Digitalisierung wird in vielen Bereichen als wichtiger Baustein bei der positiven Gestaltung von Veränderungen gesehen, mit erheblicher Auswirkung für unser gesellschaftliches Miteinander.
Unsere Welt steht Kopf. Die Corona-Pandemie hat unser Leben in nahezu sämtlichen Facetten schlagartig verändert – und das weltweit. Selbstverständliches ist nicht mehr so selbstverständlich, unsere bisherige Freiheit wird uns jetzt erst wirklich bewusst, teilweise schon vermisst und auf einmal wertgeschätzt. Die Politik rückt in Teilen wieder näher an die Menschen, Unternehmen meistern die Krise unterschiedlich gut. Staaten stellen unvorstellbar hohe Summen bereit, um die Krisenfolgen abzufedern. Einige Schulen verwehren sich, andere entwerfen zwanglos kreative, digitale Unterrichtskonzepte.
Im Zentrum all dieses Geschehens steht in erster Linie – zumindest rhetorisch, und man darf wohl sagen, unbedingt –, der Mensch mit seinen essenziellen Bedürfnissen und Sehnsüchten.
Diese Unbedingtheit verlangt nach Leitlinien und Orientierungspunkten, denn die zentrale Rolle des Menschen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchprozessen, also in einem wahrhaftigen „Weltenwandel“, muss jeweils spezifisch bestimmt, verortet und reklamiert werden. Hierzu bietet sich das Leitbild der „Würde“ an, denn ihm kommt ein normativer, in Deutschland grundgesetzlicher Auftrag zu.
Wenn dieses Thesenpapier zumindest die „Digitalisierung in Würde“ thematisiert, so ist das beispielhaft und keineswegs abschließend gemeint. Es soll hiermit erprobt werden, ob der Würdebegriff zu einer gesellschaftlich wünschenswerten und nicht lediglich technizistischen Ausformung von Digitalisierung führen kann und somit geeignet ist, auch als Kompass etwa für Verteilungsfragen, Diversität und Inklusion in der Gesellschaft zu fungieren. Im Rahmen dieses Diskurses sehen wir, dass die Lösung vieler Probleme mit der Digitalisierung verbunden wird.
In der Corona-Krise geht es darum, unsere Gesundheit zu schützen, gleichzeitig unsere gelebten gesellschaftlichen Freiheiten mit möglichst wenig Einschränkungen beizubehalten und eine globale Wirtschaftskrise zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Diese Ziele gemeinsam zu erreichen ist schwierig und komplex. Erschwerend kommt der Schleier des Nichtwissens dazu, sodass jede adäquate Lösung eine Abwägung darstellt, die am Ende nur durch die Akzeptanz der Bürger*innen als zunächst nicht falsch bestätigt wird. Dass trotzdem nicht alle diese Einschränkungen als notwendig oder hinnehmbar empfinden, zeigen zahlreiche Demonstrationen.
Jetzt ist die Politik gefragt, unbürokratische und vorausschauende Entscheidungen zu treffen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Umdenken ermöglichen. Ein Umdenken, das der Wirtschaft disruptive, digitale Lösungswege erlaubt, dem Bildungssystem zu einem flächendeckenden Sprung in die Digitalisierung verhilft, die Gesellschaft hinterfragen lässt, was jede*r Einzelne dazu beitragen kann, und dabei nie vergisst, wer im Mittelpunkt des Wandels steht: der Mensch.
Menschen sind verschieden, haben diverse Ansichten, Wünsche, Vorstellungen, Gefühle und Bedürfnisse. Was aber ist die Grundbedingung der Menschlichkeit, die uns alle eint? Könnte der Begriff der „Menschenwürde“ hierzu nicht einen ausgesprochen praktikablen Ausgangs- und Orientierungspunkt liefern? „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten.“ Auch die deutsche Verfassung stößt in aller Klarheit in dasselbe Horn: Die Würde eines Menschen ist unantastbar – so heißt es dort. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Aber reicht das? Müssen wir uns nicht auf allen Ebenen wieder und immer wieder vergegenwärtigen, was unter dem Kern der Menschenwürde im gesellschaftlichen Diskurs zu verstehen ist? Sollten nicht wir alle dazu beitragen, sie zu schützen? Sogar mehr noch: sie zu bewahren und gleichzeitig zum Dreh- und Angelpunkt unseres Handelns zu machen? In der Politik, der Wirtschaft, der Bildung, in der Gesellschaft und in jeder unserer zwischenmenschlichen Begegnungen. Eine humanistische Digitalisierung kann uns dabei helfen, oder vielleicht: ein digitaler Humanismus?
Krisen wie etwa die Corona-Pandemie erinnern uns auch an das Potenzial des Wandels – an die Möglichkeit, ihn aktiv mitzugestalten. Nicht weil wir es sonst nicht könnten, sondern weil wir beginnen uns damit auseinanderzusetzen, was anders werden muss. Uns werden Missstände bewusst, verborgene Bedürfnisse klarer und der Wunsch zum Handeln wird stärker.
Mit diesem Papier möchten wir vor allem eins: Denkanstöße geben. Wir möchten gemeinsam mit Ihnen genauer hinschauen, reflektieren, Ideen entwickeln, diskutieren und streiten. Wir haben es uns zum Ziel gemacht, die Themen Würde und Digitalisierung gemeinsam zu denken. Gemeint ist damit eine Digitalisierung in Würde und damit die Erhellung einer Zweck-Mittel-Beziehung, die als Schlüsselfaktor für einen Weltenwandel zu verstehen ist.
Diesen Schlüsselfaktor auf unsere tägliche, aber auch strategische Agenda zu setzen, ganz gleich ob in der Politik, der Wirtschaft, der Bildung, der Kirche, der Kultur oder im Sport, ist unser Anliegen. Und ganz wichtig: Wir wollen den angestoßenen Wandel in unserer Gesellschaft nicht einfach passieren lassen, sondern ihn aktiv gestalten. Und vor allem wollen wir hervorheben, dass der Anspruch auf aktive Gestaltung immer mit Verantwortung einhergeht.
Wir könnten – jede*r für sich – überlegen, wie wir Würde als unbedingtes Recht der Menschen in unserer jeweiligen Tätigkeit und unserem alltäglichen Handeln stärken und zum Besseren wahrnehmen und berücksichtigen können. Das aber reicht uns nicht. Politik, Gesellschaft, Bildung, Umwelt, Wirtschaft – alle Ebenen unseres Wirkens hängen miteinander zusammen und sind in weiten Teilen abhängig voneinander. Lassen Sie uns die folgenden Gedanken und Thesen als Grundlage nutzen, um gemeinsam über alle Ebenen hinweg in unserem Umfeld für das Thema zu sensibilisieren, sich auszutauschen und am besten: einen Platz in unseren Visionen, Missionen und Strategien zu schaffen.
Wahlerfolge antiglobaler, ja fast nationalistischer Politik haben zu einer neuen Nachdenklichkeit geführt und die Debatte befeuert, welche ethisch normativen Fixpunkte es in Zeiten des Weltenwandels geben kann bzw. geben sollte. Würde, Digitalisierung und den Wandel gestalten sind für uns die Herausforderungen, die aktiv und bewusst bei Entscheider*innen in allen Organisationen der Gesellschaft auf der Aufmerksamkeitsagenda stehen sollten.
Warum? Wir können digitalisieren, ohne einen Weltenwandel anzustreben; wir können auch einen Weltenwandel anstreben, ohne auf Digitalisierung zu setzen. Am sinnvollsten scheint es aber zu sein, die technologischen Möglichkeiten für einen Weltenwandel zu nutzen. Aber in welche Richtung soll diese Transformation gehen? Eine aktive Gestaltung des Weltenwandels setzt einen normativen Kompass voraus. Dieser Kompass ist auf Menschenwürde geeicht und fordert Verantwortung von jenen, die den Wandel aktiv gestalten.
Menschenwürde als humanistische Grundbedingung ist vielfältig und weit diskutiert. Wir verstehen darunter eine Voraussetzung, unter der es den Menschen ermöglicht wird, Leben, manchmal auch Überleben, mit Freiheit, Vielfalt und Teilhabe als aus der Würde abgeleitete Grundrechte in Einklang zu bringen.
Würde, die normative Grundidee der Menschenrechtserklärung sowie der deutschen Verfassung, hatte als Leitmotiv für gesellschaftliche Debatten der jüngeren Vergangenheit keine Konjunktur, noch viel weniger war sie spürbar handlungsleitend. Doch Würde ist der normative Ausgangspunkt, quasi die Statik, in deren Rahmen gesellschaftlich- ökonomische Entwicklungen wie die Globalisierung, aber gerade auch die Digitalisierung aktiv und normgebunden gestaltet werden können. Aus einem passiven „Sachzwang“ ohne Alternative wird somit unversehens ein gesellschaftliches Gestaltungsprojekt. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, wie stimmig sich auch scheinbar partikulare, identitätspolitische Konzepte mit dem Axiom „Würde“ verknüpfen lassen: Inklusion, Diversität, Gleichstellung und allgemeine gesellschaftliche Pluralität lassen sich eigentlich nur normativ aus der Dualität von Toleranz und eben menschlicher Würde ableiten. An dieser Stelle lassen sich Wahrung und Achtung von Würde umstandslos als Auftrag an die Politik formulieren, womit zweifelsfrei ein wesentlicher Adressat benannt wäre. Wenn jedoch die Wahrung von Würde mehr ist als ein bloßer Politikauftrag, namentlich ein Ankerpunkt für gutes gesellschaftliches Zusammenleben, dann geht die Achtung der Würde als Aufgabe an uns alle. Aber insbesondere auch an wesentliche gesellschaftliche Gruppen wie Unternehmen, Interessens- und Fokusgruppen, Kirchen, religiöse Gruppierungen oder NGOs sowie an Bildungseinrichtungen.
Die gegenwärtige Diskussion um Digitalisierung eignet sich besonders, um zu illustrieren, wie der Bezug zur Würde daraus einen Gestaltungsauftrag ableitet.
Hierzu einige Überlegungen als Ausgangspunkte für weitere Debatten:
Dieses Positionspapier ist im Zuge der Veranstaltungsreihe #Weltenwandel entstanden und spiegelt die persönliche Meinung des Teilnehmerkreises zum Thema wider.
Dieser Beitrag ist von Michael Müller-Wünsch, Gründungsmitglied der Interface Society (ThIS!) e.V., zuerst verfasst worden auf LinkedIn: https://www.linkedin.com/pulse/digitalisierung-w%25C3%25BCrde-michael-m%25C3%25BCller-w%25C3%25BCnsch/
Bildquelle Titelbild: Akil Mazumder auf Pexels